Erstflug

So erlebte der Ölbergpionier Charlie Jöst den ersten Flug am Ölberg

Schon dutzende Male bin ich von Dossenheim nach Schriesheim durch den Wald gestreift, um einen Startplatz zu finden. Der Steinbruch kann mich nicht reizen. Ein steiler Felsabbruch als Startplatz ist viel zu riskant. Aber irgendwo hier oben muss ein Segelflugplatz gewesen sein. Jedenfalls behauptet das Ali Lenz, mein Segelfluglehrer und der muss es schließlich wissen. Denn in den späten Dreißigern wurden hier oben Jungflieger in die Geheimnisse des Segelfliegens eingeweiht. Ali hatte von hier aus mit einem Grunau Baby sogar einen Flug ins Neckartal geschafft. Ich kann jedoch den Flugplatz nicht mehr finden, alles ist zugewachsen. Da entdecke ich an einem verrotteten Stahlseil ein ehemals emailliertes Schild. Im Rost kann man noch einige Buchstaben entziffern: Vorsicht Flugplatz!

Also das ist die Stelle, von der die Segelflugzeuge mit dem Gummiseil in die Rheinebene katapultiert wurden. Erst jetzt fällt mir auf, dass im Bereich des Startplatzes ganz andere Bäume – hauptsächlich Birken – wachsen. Ich klettere in Abflugrichtung eine Etage tiefer und stehe auf einer Geröllhalde in einer breiten Schneise. Vor mir breitet sich ein herrliches Panorama aus. Das ist der Platz, den ich suche!

30. April 1977 – Der Erste Drachenflug vom Ölberg von Charlie Jöst

Hier und da ein paar Sträucher entfernt, und ich habe einen idealen Drachenstartplatz. Ob es unten über die Bäume reicht? Eigentlich schon – aber genau weiß ich es erst, wenn ich sie deutlich unter mir habe. Im Wald treffe ich einen „Waldläufer“, wir kommen ins Gespräch und ich erzähle ihm von meinem Vorhaben. So gewinne ich mit Jürgen Treede einen Verbündeten und einige Tage später stapfen wir beide, den Drachen auf einem Fahrrad, mit Werkzeug und Proviant versehen zum geplanten Startplatz.
Die Sträucher sind bald gestutzt und der entscheidende Augenblick rückt näher. Jürgen hält den Fotoapparat schussbereit.
Mit hängt das Herz in der Hosentasche. In den Alpen habe ich schon Flüge mit über 1000 Metern Höhenunterschied gemacht – aber da war ich nicht der Erste.
Die Wetterbedingungen sind ideal. Es gibt keine Ausrede. Jürgen baut mich moralisch auf. Die Bäume vor mir scheinen in den letzten Minuten gewachsen zu sein – sie werden immer höher. Ich bitte Jürgen, mit dem Fotoapparat alles festzuhalten. Egal was passiert. So lässt sich später vielleicht rekonstruieren, warum ich in den Bäumen hing.

Ein letzter Adrenalinstoß, ich spurte über die Hangkante und – fliege!
Sanft trägt mich der Wind hoch über die gefürchteten Bäume, über die Ebene, weit öffnet sich der Horizont, als ich aus der Schneise komme.

Da unten liegt der vorgesehene Landeplatz. Es ist leicht, ihn zu erreichen. Rechts liegt Schriesheim an den Hang geschmiegt und links Dossenheim. Genau dazwischen schwebe ich in Richtung Landeplatz. „Grenzlandflieger“ werden wir später in der Zeitung genannt.
Ich möchte schreien vor Freude. Mein Jodler wird sogar von irgendwoher aus den Weinbergen beantwortet – oder ist es mein Echo?
Nach der Landung packe ich schnell meinen „Adler“ zusammen. Nur kein Aufsehen jetzt. Ich muss jetzt behutsam zu Werke gehen, um dieses herrliche Fluggelände für die Drachenfliegerei zu sichern. Im Umkreis von über 100 Kilometern gibt es nichts vergleichbares!

Auf dem Grundbuchamt erhalte ich die Flurstücknummern und die Namen der Besitzer der in Frage kommenden Grundstücke.
Start- und Landplatz liegen auf Schriesheimer Gemarkung. Von Bürgermeister Peter Riehl erhalte ich schon bald einen Anhörungstermin.

Auf dem Rathaus gibt es dann eine Überraschung. Im Vorzimmer warten bereits Peter Egerland und Josip Müller, zwei weitere Drachenflieger aus unserer Region, die ich ein paar Mal im Schwarzwald fliegen sah, aber noch nicht näher kenne.
Großes Erstaunen bei uns Drachenfliegern – ein breites Grinsen von Bürgermeister Riehl.

Peter und Josip sind ebenfalls auf die Idee gekommen, vom Ölberg zu fliegen und wollen von Bürgermeister Riehl wissen, ob das grundsätzlich möglich sei.
Der Bürgermeister zeigt sich interessiert und aufgeschlossen und als ich verrate, dass ich bereits einen Flug erfolgreich durchgeführt habe und von dem Gelände schwärme, sichert er uns seine volle Unterstützung zu.

Ähnliche Reaktionen dann im Dossenheimer Rathaus vom damaligen Bürgermeister Schumacher. Wir haben herausgefunden, dass die Auffahrt zum Startplatz über Dossenheimer Gemarkung deutlich kürzer ist, als über Schriesheim. So werden die Waldwege nicht unnötig belastet.

Als ich die Erlaubnis zur Wegbenutzung bei Bürgermeister Schumacher abhole, fragt er mich, ob ich ihm nicht mal vorfliegen könne, er habe uns noch nie fliegen sehen.
Wir bräuchten nur einen Fahrer, lasse ich ihn wissen, der Drachen sei auf dem Auto.
Der Bürgermeister bietet sich sofort als Fahrer an und erklärt seiner Sekretärin, dass er für die nächste Stunde in einer wichtigen Angelegenheit unterwegs sei.

So werden wir kleines Häuflein Drachenflieger herzlich von beiden Gemeinden aufgenommen. Karl Neubrecht stellt uns freundlicherweise sein Feld als Landewiese zur Verfügung und unsere Landeplatznachbarn, die Herren Krämer, Urban und Riedinger, drücken auch mal ein Auge zu, wenn einer von uns die Drachennase in ihr Feld bohrt.

Mit den Winzern verbindet uns bald mehr als nur nachbarschaftliche Beziehungen.
Alljährlich zum Rebblütenfest tragen die Drachenflieger – sofern das Wetter es zulässt – einen kleinen Wettbewerb aus, um das Festprogramm mit einigen Flugdarbietungen zu bereichern.

Da wir „Grenzlandflieger“ uns eigentlich beiden Gemeinden zugehörig fühlen, wählen wir, nach reiflicher Überlegung, einen Vereinsnamen, der alle miteinander verbindet: Die Bergsträßler Drachenflieger.

Zum Drachen- und Gleitschirmflieger Charlie Jöst:
Nach der Erstbefliegung des Ölbergs war Charlie treibende Kraft und Gründungsmitglied, sowie Vorsitzender des Vereins bis 1984.
Von 1996 bis 2022 – also 25 Jahre lang – war er Vorsitzender des Deutschen Hängegleiter Verbands (DHV), gegründet 1979. Inzwischen hat der DHV über 32.000 Mitglieder aus Drachen- und Gleitschirmpiloten. Neben einem umfassenden Mitgliederservice und der Interessensvertretung der Piloten übernimmt der DHV auch behördliche Aufgaben im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr.
Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des DHV sagte Charlie: „In diesem Jahr freue ich mich besonders darauf, 25 Jahre DHV zu feiern! Im Vergleich mit traditionellen Sportverbänden sind wir eigentlich noch jung – und trotzdem schon richtig erwachsen. Die Ideale der Gründerväter von 1979 sind auch die Ideale von heute: Unseren Sport so sicher und so frei wie möglich ausüben zu können.“